Der erste Teil der Heimreise führte mich von Kaunas zunächst über die polnische Grenze nach Białystok. Hier begann eine wunderbare Fahrt am offenen Fenster durch das urwüchsige Masuren. Am Abend stand ein Zwischenstopp in Danzig an, den ich mit polnischen Gaumenfreuden und einer nächtliche Stadtbesichtigung im Schnelldurchgang verbrachte. Weiter ging es dann mit dem Nachtzug in Richtung Niederschlesien.
Kaunas – Białystok – Danzig 733 km (total: 15.733 km)
Nun war es also endgültig so weit – die Heimreise stand an! Für diese wählte ich allerdings nicht den direkten Weg, sondern hatte mir einen leicht verrückten 36-Stunden-Marathon auf Schienen in den Kopf gesetzt. Mit diesem wollte ich mir zwei letzte Wünsche von meiner Liste erfüllen: Einen Abstecher nach Danzig und eine Nacht in einem polnischen Schlafwagen. Dazu musste es aber zunächst von Litauen hinüber nach Polen gehen. Eine durchgängige Zugverbindung zwischen beiden Ländern besteht erst wieder seit Juni 2016, und zwar in das ostpolnische Białystok. Mit nur fünf Zügen pro Woche und Richtung – davon jeweils vier am Wochenende – ist das Bedienungsangebot allerdings alles andere als üppig. Ich hatte meine Übernachtung in Kaunas daher absichtlich von Freitag auf Samstag gelegt; schließlich war ich fest entschlossen, die jüngste internationale Verbindung in Europa zu testen.
Nach einem ausgiebigen Frühstück im Hotelzimmer (im Übernachtungspreis enthalten war zwar eine morgendliche Mahlzeit im Restaurant eine Etage tiefer, dafür war es jedoch noch zu früh) machte ich mich gegen halb neun auf zum Bahnhof. Wie alle wichtigen verkehrstechnischen Einrichtungen liegt auch dieser in der Neustadt von Kaunas, daher hatte ich es nicht weit. In der Schalterhalle besorgte ich mir für elf Euro die Fahrkarte nach Polen. Dazu gab es ein kleines Schleifchen in den litauischen Farben Gelb, Grün und Rot zum Anstecken, schließlich war heute der nationale Unabhängigkeitstag.
Der Zug stand bereits am äußeren Bahnsteig bereit. Es handelte sich um einen neuen Dieseltriebwagen, den man allerdings eher im Regionalverkehr, als auf einer internationalen Route vermuten würde. Aber was solls, in dieser Gegend ist man ja froh, dass überhaupt ein Zug fährt! Im Inneren setzte sich der Nahverkehrscharakter fort. Moderne Annehmlichkeiten wie WLAN oder Steckdosen am Platz sucht man jedenfalls vergeblich. Interessantes Detail: Die angezeigte Uhrzeit im Wagen war bereits nach MEZ und erinnerte so an die Zeitumstellung an der Grenze. Anders als die Fotos vermuten lassen, hatte sich neben mir noch etwa ein Dutzend weiterer Fahrgäste in den doch recht exotischen Zug verirrt.
Pünktlich um neun Uhr litauischer Zeit setzte sich der Triebwagen in Bewegung. Bei trübem Wetter fuhren wir durch karge, großteils menschenleere Gegenden. Die Strecke bis zur polnischen Grenze wurde nach umfangreichen Sanierungsarbeiten erst im Oktober 2015 wiedereröffnet. Es handelt sich hierbei um den ersten Abschnitt der Rail Baltica, einer geplanten (Hochgeschwindigkeits-) Eisenbahnverbindung von Warschau über Kaunas und Riga nach Tallinn. Es gibt sogar die Vision, die Strecke eines Tages durch einen gigantischen Tunnel bis Helsinki zu verlängern – ein kühner Plan, der bereits durchaus im Bewusstsein der Finnen angekommen ist. Jedenfalls wusste mein Abteilgenosse im Nachtzug von Rovaniemi sehr genau über das Projekt Bescheid. Durch den hervorragenden Zustand der Strecke – es war nicht ein Grashalm im Gleisbett zu sehen – ging es auf litauischer Seite flott voran.
Nach etwa einstündiger Fahrt erreichten wir mit Trakiszki den ersten Bahnhof in Polen. Hier hatten wir planmäßig einen Aufenthalt von einer knappen Viertelstunde. Auf dem anderen Bahnsteiggleis wartete bereits unser Gegenzug, der Białystok am frühen Morgen verlassen hatte. Aus diesem stieg eine Gruppe polnischer Grenzschützer zu, die sich sogleich an die Passkontrolle machte. Ihr Ton war recht ruppig und jeder Reisende wurde nach seinem Ziel befragt. Insbesondere die litauischen Fahrgäste wurden kritisch beäugt und ihr Gesicht sekundenlang mit dem Passfoto abgeglichen. Ich jedenfalls war froh, als die Grenzer den Zug endlich wieder verlassen hatten und die Reise weitergehen konnte!
Auf polnischer Seite ging es nun bedeutend langsamer voran; Schienenstoß für Schienenstoß quälten wir uns in Richtung Białystok. Laut Wikipedia sollen die Sanierungsarbeiten auf diesem Abschnitt der Strecke erst im Jahre 2022 abgeschlossen sein. Der erste größere Zwischenhalt war in Suwałki, wo sogleich die für den Außenstehenden etwas verwirrende, landestypische Nummerierung von Bahnsteig (peron) und Gleis (tor) ins Auge fiel. In der Folge kamen wir an vielen kleineren Stationen zum Stehen, die nicht als Verkehrshalt vorgesehen waren, sondern offenbar nur zur Begegnung mit anderen Zügen dienten. Durch die ständigen Pausen – die sowohl vom Personal, als auch von einige Fahrgästen dankbar zum Rauchen genutzt wurden – fürchtete ich ein wenig um meinen Anschluss. Scheinbar waren diese aber im großzügigen Fahrplan berücksichtigt.
Wir erreichten Białystok schließlich pünktlich und so konnte ich im naheglegenen Zabka (eine polnische Kioskkette) meine Essensvorräte noch ein wenig zu ergänzen. Größtes Problem meiner zweitägigen Mammut-Rückreise: Ich hatte es geschafft, eine Verbindung komplett ohne Bordgastronomie zu wählen. Somit war ich auf Unterwegsverpflegung an den jeweiligen Umstiegsbahnhöfen angewiesen. Nachdem dies erledigt war, schaute ich mich noch ein wenig im Empfangsgbäude um, ehe ich mit einem überraschend genießbaren Automaten-Cappuccino zum Bahnsteig ging.
Dort stand bereits der Zug, der mich in mehr als sechs Stunden an die Ostseeküste nach Danzig bringen sollte. Es handelte sich um einen klassischen Schnellzug der Gattung Twoje Linie Kolejowe (kurz TLK, etwa „Deine Bahnlinien“), welche in der Hierarchie der mannigfaltigen polnischen Fernverkehrszüge nach Express InterCity Premium, Express InterCity und InterCity an vierter und letzter Stelle angesiedelt ist. Auf teilweise sehr langen Laufwegen bedienen die TLK-Züge das untere Preissegment, wobei hauptsächlich älteres Wagenmaterial vorherrscht. Auf einer früheren Reise nach Breslau hatte ich bereits Bekanntschaft mit den Achter-Abteilen in der zweiten Klasse gemacht und diese als reichlich eng empfunden. Daher gönnte ich mir für heute eine Fahrt in der ersten Klasse, die mit 90 Złoty (etwas über 20 Euro) in Anbetracht der langen Strecke immer noch recht preiswert war.
Im Erste-Klasse-Wagen herrschte gähnende Leere. Neben mir gab es zunächst überhaupt nur einen weiteren Fahrgast, nämlich eine ältere Dame, die bereits in meinem Abteil saß. Sie sprach ein paar Brocken Englisch und war ebenfalls auf dem Weg nach Danzig. Es war noch etwas Zeit bis zur Abfahrt und so machte ich mich auf einen kleinen Erkundungsgang durch den Waggon. Mit Übersetzfenstern und Plumpsklo atmete dieser noch den Geist der guten alten Eisenbahnzeit.
Später stiegen noch zwei weitere Fahrgäste zu – wieder zielgerichtet in unser Abteil, während alle weiteren um uns herum leer blieben. Offenbar neigt das polnische Buchungssystem auch in der ersten Klasse dazu, zunächst die Abteile voll zu belegen, bevor ein weiteres „angebrochen“ wird. Verwundert über diese Praxis verkrümelte mich bald in eines der unbesetzten Nachbarabteile. Hier würde ich die nächsten Stunden ungestört bleiben und konnte die Fahrt am offenen Fenster genießen. Mehr Eisenbahnromantik geht nicht! Nachdem wir Białystok hinter uns gelassen hatten, fuhren wir zunächst durch die zugehörige Woiwodschaft Podlachien – eine der am dünnsten besiedelten Landstriche Polens, in dem sich Flüsse, Seen und Waldgebiete munter abwechselten. Nach etwa einer Stunde erreichten wir das kleine Städtchen Grajewo. Ab hier begann die urwüchsige Landschaft Masuren, Hauptteil der heutigen Fahrt.
Masuren (polnisch Mazury) bezeichnet eine geographisch nicht klar abgegrenzte Region im Süden des ehemaligen Ostpreußens. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie Polen zugeschlagen und bildet heute mit der Gegend um Olsztyn – das ehemals deutsche Allenstein – die Woiwodschaft Ermland-Masuren. Mit ihren unzähligen Seen, sanften Hügeln und dichten Wäldern löst Masuren nicht nur bei Heimatvertriebenen und deren Nachkommen Sehnsuchtsgefühle aus, sondern ist mittlerweile auch bei Naturfreunden und Aktivurlaubern hoch im Kurs. In einem Artikel der Tageszeitung WAZ heißt es: „In Masuren hat sich der Mensch nach der Natur zu richten, nicht umgekehrt.“
Den ersten längeren Halt legten wir in Ełk ein. Nachdem der Begriff Masuren im frühen 19. Jahrhundert erstmals aufkam, bezeichnete sich das ehemalige Lyck gerne als dessen Hauptstadt. Lyck ist übrigens Geburtsort des großen Schriftstellers Siegfried Lenz, der seiner Heimat in den Werken So zärtlich war Suleyken und Heimatmuseum ein Denkmal gesetzt hat. Hinter Ełk passierten wir einige Seen und ein weites Land. Gerade in den Farben des ausklingenden Winters wurde offenbar, warum dieser Gegend in vielen Beschreibungen immer wieder das Attribut melancholisch zugesprochen wird.
Ein weiteres typisches Landschaftsbild in Masuren sind Moore und Sümpfe, aus denen oft abgestorbene Baumstämme ragen. Durch ein solches Feuchtgebiet fuhren wir, ehe der nächster Halt in Giżycko erreicht war. Die 30.000-Seelen-Kleinstadt liegt am Ufer des großen Sees Niegocin. Dieser ist Teil der Masurischen Seenplatte und durch ein verzweigtes Netz an Kanälen und kleinen Wasserzügen mit den umliegenden Gewässern verbunden. Auffällig war das viele Holz, das neben den Bahnsteigen lagerte und von der traditionell wichtigen Rolle der Forstwirtschaft in Masuren zeugte.
So verging die Zeit und ich vebrachte einen herrlichen Eisenbahn-Samstagnachmittag mit Nase und Kamera im Wind. Dutzende Fotos fanden ihren Weg auf meine Speicherkarte und ich wusste: Diesmal würde die Bildauswahl für den Blog besonders schwer werden! Zwischendurch spielte ich ein wenig mit der Belichtungszeit herum und entdeckte den hübschen Effekt der Bewegungsunschärfe. Ich ärgerte mich ein wenig, dass ich damit nicht schon eher experimentiert hatte, zum Beispiel auf meiner Fahrt durch den eisigen Wintermorgen nach Östersund.
Weiter ging es über Kętrzyn (deutsch Rastenburg), wo wir unseren Gegenzug trafen. Zweifelhafte Berühmtheit erlangte der Ort durch die nahegelegene Wolfsschanze. Hier, im sogenannten Führerhauptquartier, verübte am 20. Juli 1944 Claus Schenk Graf von Stauffenberg sein gescheitertes Sprengstoffattentat auf Adolf Hitler. Heute zieht die ehemalige Bunkeranlage bis zu 200.000 Touristen im Jahr an. Allerdings mangelt es an einer historisch-kritischen Erschließung und die Besucher irren offenbar vielfach orientierungslos über das Gelände.
Langsam wurde es Abend. Gegen halb sechs erreichten wir mit Olsztyn die größte Stadt entlang der Strecke und den Verwaltungssitz von Ermland-Masuren. Unsere Haltezeit am Hauptbahnhof (Olsztyn Główny) war mit einer Viertelstunde entsprechend lang bemessen. Kurz nach der Abfahrt setzte die Dämmerung ein, so dass das Fotografieren aus dem fahrenden Zug immer schwieriger wurde. Als es schließlich stockdunkel war, wandte ich mich für den letzten Abschnitt der Fahrt meinem Laptop zu.
Über Elbląg und Tczew kamen wir schließlich um kurz vor acht in Danzig (polnisch Gdańsk) an. Der Zug hatte hier nur einen kurzen Zwischenhalt und würde noch weiter an die Küste nach Gdynia fahren. Zusammen mit Danzig und dem kleineren Sopot bildet dies die so genannte Dreistadt (polnisch Trójmiasto), in der die Stadtgrenzen fließend ineinander übergehen. Ich jedenfalls fand mich auf dem Bahnsteig von Gdańsk Główny wieder und hatte nun etwas über drei Stunden Zeit für eine Stadtbesichtigung im Schnelldurchlauf.
Zunächst stand aber das Abendessen auf dem Programm. In Anbetracht der Kürze der Zeit hatte ich mir vorab bereits ein Restaurant ausgesucht, und zwar das Swojski Smak unweit des Bahnhofs. Das Ambiente in dem Lokal war modern und hip, die Karte aber durchaus traditionell. So erfreute ich mich am klassischen Dreiklang der polnischen Küche: Żurek, Pierogi und Piwo. Das Essen war unglaublich lecker und die Portionen mehr als reichlich. So verließ ich den Laden mit einem Stein im Magen, aber glücklich und zufrieden.
Meine nächtliche Runde durch Danzig führte mich zunächst in den nordwestlichen Teil der Altstadt. Mit der Katharinenkirche und der Großen Mühle befinden sich hier bedeutende mittelalterliche Backsteinbauten, deren Geschichte bis in das 14. Jahrhundert zurückreicht. Unweit des Ensembles findet sich die jüngere Markthalle (Hala Targowa) von 1896, welche von Danzigs Bedeutung als Handelszentrum kundet.
Durch das Goldene Tor gelangte ich in die Rechtstadt, den historisch bedeutsamsten Teil von Danzig. Über die Langgasse schlenderte ich zum alten Hafen an der Motława, wo mit dem Krantor wohl das berühmteste Postkartenmotiv der Stadt wartete. Nach Unterquerung des Grünen Tores gelangte ich zurück auf den Langen Markt, wo der Ausgeh- und Amüsierbetrieb an diesem Samstagabend in vollem Gange war. In der wuseligen Atmosphäre verewigte ich noch eine nächtliche Ansicht des Rechtstädischen Rathauses, ehe ich mich langsam auf den Rückweg in Richtung Bahnhof begab.
Dort kam ich gegen halb elf an und hatte noch eine halbe Stunde Zeit bis zur Abfahrt meines Nachtzuges, der mich in das niederschlesische Jelenia Góra bringen sollte. Ich befreite meinen Rucksack, den ich in einem Schließfach deponiert hatte, und besichtigte noch ein wenig den nahezu ausgestorbenen Bahnhof. Bei Einfahrt des Zuges hatten sich doch noch einige Reisende auf dem Bahnsteig versammelt. Meinen Schlafwagen betrat neben mir aber nur ein weiterer, etwa gleichaltriger Fahrgast. Zielgerichtet steuerten wir dasselbe Abteil in der Wagenmitte an – wir würden also die Nacht zusammen verbringen! Es handelte sich um Łukasz, der vor acht Jahren zum Physikstudium nach Oxford gegangen und nun auf Heimaturlaub in Polen war. Aufgrund des gleichen Studienhintergrundes hatten wir uns natürlich einiges zu erzählen.
Am nächsten Halt sstieg noch ein weiterer Pole zu, somit war unser Dreierabteil nun komplett. Er sprach leider kaum Englisch, dafür umso besser Französisch, da er einige Zeit in Paris verbracht hatte. Mit Łukasz‘ Hilfe als Dolmetscher unterhielten wir uns noch länger sehr angeregt, ehe wir irgendwann müde in unsere Kojen fielen. Dies war auch höchste Zeit, denn die beiden würden bereits in Breslau aussteigen, was wir planmäßig um 06:20 Uhr erreichen sollten. Durch ein letztes Gute-Nacht-Piwo hatte auch ich die nötige Bettschwere längst erreicht und schlummerte seelenruhig ein.