Eigentlich war für heute ein reiner Aufenhaltstag in Riga vorgesehen. Da ich aber neugierig auf den Rest von Lettland war, entschloss ich mich kurzfristig zu einem Tagesausflug nach Sigulda. Dort erlebte ich nicht nur eine tolle Wanderung im Urstromtal der Gauja, sondern fand mich – zu meiner eigenen Überraschung – bei immer noch winterlichen Verhältnissen plötzlich auf Langlaufskiern wieder. Wie ich mich dabei angestellt habe, erfahrt ihr im folgenden Bericht. Außerdem gibt es wie versprochen eine ausführliche Fotodokumentation aus dem wunderschönen Riga bei Nacht.
Riga – Sigulda – Riga 106 km (total: 14.733 km)
Für heute hatte ich mir überlegt, nicht den ganzen Tag in Riga selbst zu verbringen, sondern stattdessen einen Ausflug in das Umland zu machen. So würde ich wenigstens einen kleinen Eindruck vom Lettland abseits der Hauptstadt bekommen. Nach meiner Recherche und Rücksprache mit der freundlichen Dame vom Hostel kamen zwei Ziele in Frage: Entweder Jūrmala an der Ostseeküste, Rigas „Badewanne“ im Sommer, oder Sigulda, gelegen im Nationalpark Gaujatal und lettisches Wintersportzentrum. In Erinnerung an das Hauptthema dieser Reise war die Entscheidung Strand vs. Winterspaziergang schnell getroffen und so bestieg ich am frühen Morgen den Nahverkehrszug ins Landesinnere.
Nach etwa einstündiger Fahrt kam ich bei bestem Wetter in Sigulda an. Auch hier erwartete mich wieder ein hübscher, frisch sanierter Bahnhof. Nachdem ich mich im Touristenbüro mit einer Wanderkarte bewaffnet hatte, entschied ich mich, die „Route durch Landschaft und Natur“ zu gehen. Eine Strecke war 8,5 km lang, beim Rückweg bot es sich aber an, mit einer Seilbahn über die Gauja abzukürzen. Außerdem führte der Weg am örtlichen Langlaufzentrum samt Skiverleih vorbei – nach meinen ersten Versuchen im finnischen Saariselkä juckte es mich schon ein wenig, es noch einmal mit den schmalen Latten zu probieren…!
Kaum war ich aus der Ortsmitte heraus, kam ich an dem Startbereich der Bob- und Rodelbahn vorbei. Diese führt über 1200 Meter und 16 Kurven hinab ins Tal und kann als einige der wenigen sowohl von Profisportlern, als auch Touristen benutzt werden. Regelmäßig werden auch Weltcuprennen auf der Bahn veranstaltet, daher gehörte Sigulda zu den ganz wenigen Orten in Lettland, dessen Namen ich bereits vor meiner Reise schon einmal wahrgenommen hatte.
Nach etwa zwei Kilometern erreichte ich das Sport- und Freizeitzentrum von Sigulda, welches unter anderem besagte Langlaufstrecke umfasst. Dabei handelt es sich um einen 1,25 km langen Rundkurs mit einer speziellen Kühltechnik, so dass angeblich Schneesicherheit von Herbst bis Frühling herrscht. Alles wirkte recht modern und neu und die Strecke sah auf den ersten Blick anfängerfreundlich aus. Also wagte ich es und leihte mir eine Skiausrüstung – dank Studentenrabatt zu einem Spottpreis. Während ich mich wieder ganz vorsichtig an die ungewohnte Laufbewegung herantastete, wurde die Loipe von zwei (Grund-)Schulklassen gestürmt. Dies war einigermaßen frustrierend, denn bei den Kids sah so spielerisch leicht aus, was mir größte Mühe und manche Verrenkung bereitete! Zudem stellte sich bald heraus, dass die Strecke gar nicht so leicht war, wie es auf den ersten Blick aussah. Es gab nämlich zwei steile Abfahrten, an deren Ende jeweils eine scharfe Kurve ohne gespurte Loipe wartete! Da ich noch immer nicht den blassesten Schimmer davon hatte, wie zum Teufel man auf Langlauf-Skiern gezielt die Richtung wechselt, sah ich mich wohl oder übel gezwungen, die Abfahrten hinunter zu steigen statt zu fahren. Peinlich, peinlich – da hatte ich meine Fähigkeiten wohl ein wenig überschätzt! Naja, immerhin lief es in der Ebene und in Anstiegen ganz manierlich.
Als ich nach einigen Runden ganz schön ins Schwitzen gekommen war – im Gegensatz zu Lappland herrschten hier nämlich einige Plusgrade – und mich gerade auf den Weg in Richtung Umkleidekabine machen wollte, sprach mich ein ungefähr gleichaltriger Lette an. Es stellte sich heraus, dass er ebenso wie ich zum zweiten Mal überhaupt auf Skiern stand. Demensprechend ergänzten wir uns ganz gut und „stümperten“ noch eine Zeit gemeinsam über die Bahn. Er war allerdings in der (in meinen Augen) schwierigeren Skating-Technik unterwegs und hatte deutlich weniger Skrupel vor den Abfahrten. Natürlich wollte ich mir keine Blöße geben und ließ es diesmal darauf ankommen. Und siehe da: Irgendwie kam ich heile unten an und auch irgendwie um die Kurve. Nur ganz am Ende landete ich mit dem Hosenboden im Schnee. Na also, geht doch! Wir unterhielten uns noch einige Zeit über Lettland, das Baltikum und Europa im Allgemeinen. Insbesondere seine Einschätzungen über die kulturellen und sprachlichen Unterschiede zwischen Esten, Letten und Litauern waren sehr interessant und aufschlussreich.
Schließlich waren wir beide ganz schön erschöpft und packten die Skier für heute ein. Zum Abschied gab es noch einen Automatenkaffee und ein gemeinsames Selfie mit meinem unbekannten lettischen Freund, nach dessen Namen ich leider nicht gefragt habe. Irgendwo auf Facebook geistert nun ein Foto von mir herum, auf dem ich wahrscheinlich sehr bescheuert aussehe, da die Selfie-Kultur bis heute komplett an mir vorbeigegangen ist und ich keine Ahnung habe, wie man darauf gucken soll – ich bin zu alt für den Scheiß!
Mittlerweile war es bereits Mittag. Also nahm ich meine schon etwas müden Beine in die Hand, denn ich hatte ja noch einiges an Strecke vor mir. Der Weg führte mich nun zunächst hinunter an das Ufer der Gauja. Hier bekam ich einen ersten Eindruck von der Steilheit des Tales, das der Fluss über die Jahrtausende in die Landschaft gefräst hatte. Nach Überquerung der Fußgänger-Hängebrücke ging es aber gleich wieder aufwärts in den bewaldeten Hang. Das ewige Auf und Ab sollte ab nun zu meinem stetigen Begleiter werden. Zwischendurch gab der dichte Wald immer mal wieder einen schönen Ausblick über das Tal frei. Bald erspähte ich die besagte Seilbahn (übrigens die einzige in Lettland), welche allerdings regungslos in der Mitte über dem Tal hing – kein gutes Zeichen!
Auf dem Weg zum östlichen Ende der Seilbahn in Krimulda kam ich an einem ehemals stolzen Landgut vorbei (Krimuldas muiža), welches heute teils als Rehazentrum, teils als Hotel verwendet wird. Das beeindruckende Gebäudeensemble besticht durch seine idyllische Lage, hat allerdings schon deutlich bessere Tage gesehen. Von hier ging es über eine hölzerne Treppe wieder ein Stück abwärts, ehe die Seilbahnstation erreicht war. Hier verkündete ein Schild dann die bittere Wahrheit: Bis auf Weiteres geschlossen. Diese Möglichkeit, den Rückweg zu verkürzen, fiel also aus. Ich war allerdings gar nicht so traurig darüber, denn freischwebende Verkehrsmittel sind mir im Allgemeinen alles andere als geheuer. Außerdem hatte ich noch Lust, meinen Gang ein wenig fortzusetzen. Also steuerte ich die historische Burg Turaida an, eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Region. Zunächst ging es aber noch an den Resten der mittelalterlichen Burg von Krimulda vorbei, welche nach einem Brand im Jahre 1601 nicht wiederaufgebaut wurde.
Nach Krimulda ging es wieder einmal hinab auf Flusshöhe. Bis Turaida war es noch ein ganzes Stück, bestimmt 5 km. Also zog ich das Tempo an. Unterwegs kam ich an einer Felshöhle vorbei, deren Wände ungeachtet des Verbotsschildes über und über mit Ritzereien verziert waren. Kurz dannach ging es wieder nach oben, von wo ich die Burg bereits sehen konnte. Allerdings war sie nicht auf direktem Wege zu erreichen, sondern zunächst war in einer endlosen Schleife ein Seitental zu umrunden. Irgendwann hatte ich es dann doch endlich geschafft und ich stand vor den Burgmauern. Der Euphorie, endlich am Ziel angekommen zu sein, folgte unmittelbar Ernüchterung, denn a) war die Burg nur gegen Eintritt zu betreten und b) war die Öffnungszeit in einer halben Stunde vorbei. Dies wertete ich als Wink des Schicksals machte mich unmittelbar auf den Rückweg. Da ich keine Lust hatte, den kilometerlangen Umweg nochmal zu gehen, bin ich einfach die Landstraße hinab gelaufen. Das ist so wahrscheinlich nicht vorgesehen, aber dank des nicht allzu dichten Verkehrs habe ich es überlebt.
Durch die Abkürzung war ich relativ bald an der Straßenbrücke über die Gauja, welche den Ortseingang von Sigulda markiert. Die Brücke war mit allerhand Liebesschlössern versehen. Deren Korrosionsgrad ließ darauf schließen, dass es sich hierbei um keinen ganz neuen Trend handeln konnte. Da das Stadtzentrum auf dem Hang liegt, stand nun noch ein letzter Aufstieg an. Dieser wurde durch einen erneuten wunderbaren Talblick entschädigt. Ich hielt mich allerdings nicht lange auf, denn ich wollte unbedingt den Zug um Viertel vor fünf erreichten. Also hetzte ich im Laufschritt zum Bahnhof. Lustigerweise begegnete mir dabei mein lettischer Freund vom Langlaufen wieder! Diesmal war er mit seiner Freundin unterwegs. Die beiden kamen gerade von einem sehr ausgedehntem Mittagsessen zurück. Als ich ihnen erzählte, dass ich zwischenzeitlich bei der Burg Turaida war – und zwar ohne Auto, Bus und Seilbahn, sondern per pedes – staunten sie nicht schlecht und wollten es kaum glauben. Sie erklärten mir noch den kürzesten Weg zur Bahn, ehe sich unsere Wege bald wieder trennten, ich hatte es ja schließlich eilig. Fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges kam ich am Bahnhof an und hatte so noch genug Zeit für den Fahrkartenkauf am Schalter, womit ich den Bordzuschlag von sagenhaften 50 Cent umgehen konnte.
Puh! Im Zug ließ ich mich erstmal in den Sitz fallen. Nach zwei Stunden Langlauf und fast 20 km Laufstrecke über Berg und Tal war ich ganz schön erschöpft. Außerdem meldete sich großer Hunger. Zurück in Riga führte mich daher der erste Weg, nachdem ich mich im Hostel kurz frisch gemacht hatte, wieder ins Pelmeni-Paradies (siehe Beitrag von gestern). Nach der überfälligen Stärkung machte ich mich frohen Mutes auf zu Stadtrundgang Nummer zwei, diesmal wie versprochen mit Kamera bewaffnet.
Der Weg führte mich zunächst an das Ufer der Daugava (deutsch Düna), ein Strom von beachtlicher Breite. Ein besonderer Blickfang waren die fünf stählernen Bogen der gewaltigen Eisenbahnbrücke, welche zur Abendstunde sehr schön illuminiert sind. Flussaufwärts fällt sofort der futuristische Fernsehturm ins Auge, mit über 360 Metern der höchste seiner Art in der Europäischen Union. In der anderen Richtung wird das Bild von der Vanšu-Schrägseilbrücke geprägt, ebenfalls eine der größten in Europa, sowie einigen modernen Hochhäusern. In Bau befinden sich gerade die Z-Towers, die bei Fertigstellung die höchsten (bewohnten) Bauwerke Lettlands sein werden. Man erkennt: In Riga wird nicht gekleckert, sondern geklotzt!
Weiter ging es zum Rathausplatz mit dem prachtvollen Schwarzhäupterhaus aus dem Jahr 1334 und der naheliegenden Petrikirche, deren Geschichte bis in das frühe 13. Jahrhundert zurückreicht. Letztere gilt als Hauptwerk der Backsteingotik und dominiert die Stadtansicht bis heute. Nachdem ich durch einige verwinkelte Gassen geschlendert war, erreichte ich schließlich den Rigaer Dom und damit die größte Kirche des Baltikums – allerdings bei weitem nicht die höchste, denn der vormals 140 m hohe Turm wurde im 18. Jahrhundert wegen Baufälligkeit durch ein deutlich niedrigeres Exemplar von 90 Metern ersetzt. Weitere markante Bauwerke entlang meines Weges waren die katholische Kirche Mater Dolorosa und das Rigaer Schloss, heutiger Sitz des Staatspräsidenten (der aktuelle Amtsinhaber Raimonds Vējonis ist übrigens Mitglied der lettischen Grünen, wer hätte das gedacht).
Nun zog es mich in das berühmte Jugendstil-Viertel von Riga. Dieses schließt nördlich an die Altstadt an und genießt Weltruf. Hier sind es weniger einzelne Bauten, die herausstrechen, sondern die unglaubliche Fülle von reich verzierten Häusern aus dem frühen 20. Jahrhundert. Angeblich liegt dies daran, dass zu Sowjetzeiten schlicht kein Geld für deren Abriss zur Verfügung stand – ein Glück, ansonsten würden hier womöglich graue Plattenbauten stehen!
Nach einer Schleife durch die Neustadt passierte ich die neoklassizistische Nationaloper und kehrte in den weitläufigen Esplanāde-Park ein. Dort stieß ich auf das steinerne Denkmal eines Mannes, den ich fälschlicherweise zunächst für Lenin hielt, welcher sich bei meiner späteren Recherche aber als der lettische Dichter Jānis Rainis (1865–1929) herausstellte. Das südöstlichen Ende des Parks markiert die Geburtskathedrale, ihres Zeichens die größte orthodoxe Kirche des Baltikums. Ich wandte mich nun wieder in Richtung Daugava und lief direkt auf das Freiheitsmonument zu, welches anlässlich der (ersten) lettischen Unabhängigkeit in den 1930er Jahren errichten wurde.
Die letzte Sehenswürdigkeit, die ich gezielt aufsuchte, war das Häuserensemble der Drei Brüder. Die jeweiligen Gebäude wurden zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert errichtet und repräsentieren drei unterschiedliche historische Baustile (Gotik, Manierismus und Barock). Nachdem ich auch diese auf den Chip gebrannt hatte, machte ich mich auf den Heimweg zurück in Richtung Bahnhof. Dort lichtete ich noch den imposanten Uhrenturm ab, ehe ich mich ins Hostel und damit in mein Bettchen zurückzog.
Damit ging ein ereignisreicher und eindrücklicher Tag in Lettland vorbei. Morgen sollte es gegen Mittag mit dem Bus in Richtung Litauen weitergehen. Da ich mir allerdings für den Vormittag noch eine Kleinigkeit in Riga vorgenommen hatte, stellte ich mir den Wecker nicht allzu spät. Dazu aber mehr im nächsten Bericht – für heute heißt es erst einmal: Tschüss und bis bald!