Nachdem ich mich morgens noch als Trainspotter der letzten internationalen Züge nach Riga betätigt hatte, stand am Mittag die Weiterfahrt in das litauische Kaunas auf dem Programm. Diesen Abschnitt musste ich im Bus zurücklegen, denn zwischen Lettland und Litauen besteht derzeit der berühmte missing link im baltischen Bahnverkehr. In Kaunas angekommen, erwartete mich ein überraschend ansehnliches Städtchen in Feierlaune, denn es war der Vorabend des litauischen Unabhängigkeitstages.
Riga – Kaunas 267 km (total: 15.000 km)
Auch wenn mein Bus nach Litauen erst am Mittag fahren sollte, verließ ich das Hostel bereits um kurz nach acht. Mein Ziel war der Bahnhof, wo ich die letzten beiden verbleibenden internationalen Züge nach Riga in Augenschein nahmen wollte. Wie in Osteuropa üblich, handelt es sich um Nachtzüge, daher die Ankunft am frühen Morgen. Am Bahnsteig wartete bereits der Zug aus Russland. Dieser besteht planmäßig aus zwei Teilen, einem aus St. Petersburg und einem aus Moskau, und wird als Latvijas Ekspresis vermarktet. Mit mehr als zehn Waggons hatte der Zug eine beachtliche Länge, führte sogar einen Speisewagen („Restorans“) und bot allerlei charmante Details wie Plastikblumen im Fenster und rauchende Öfen am Wagenende.
Nach etwa einer halben Stunde näherte sich der zweite internationale Zug, und zwar aus Minsk, Weißrussland. Dieser war mit drei (Schlaf-)Wagen bedeutend kürzer und verkehrt außerdem nur im zweitäglichen Rhythmus. Ebenso wie sein Pendent aus Russland war auch der weißrussische Zug mit einer imposanten sechsachsigen Diesellokomotive bespannt, die selbst die an sich schon riesigen Breitspurwagen noch einmal ein gutes Stück überragt. Besonders faszinierend war die Armada an ausschließlich weiblichen Zugbegleiterinnen, die sich unmittelbar nach Halt des Zuges mit akkurat sitzender Uniform und strengem Blick neben den Türen postierte, um den Fahrgästen beim Aussteigen zuzusehen (aus Respekt ohne Foto; wer wissen will, was ich meine, kann ja mal nach Provodnik bzw. Provodniza googeln).
Als ich die beiden exotischen Züge aus dem ehemaligen Ostblock ausreichend bestaunt hatte, drehte ich eine Runde durch die Moskauer Vorstadt, welche sich unmittelbar an die Südseite des Bahnhofes anschließt. Wie der Name vermuten lässt, weht hier ein etwas anderer, russischer Wind. Historisch wurde dieser Teil der Stadt vor allem von Kaufleuten geprägt. Dominiert wird die Moskauer Vorstadt durch des Hochhaus der Lettischen Akademie der Wissenschften, welches mit seinem sowjetisch-klassizistischem Stil nicht wenig an ein ungleich höheres Bauwerk in Warschau erinnert. Ich schlenderte noch ein wenig durch das bunte Markttreiben rund um den Zentralmarkt, ehe ich zum Bahnhof und schließlich zu meiner Unterkunft zurückkehrte, um die nahende Abreise vorzubereiten.
Bei einer Routinekontrolle der Abfahrtszeit des Busses stellte ich fest, dass die Fahrkarte nicht vor Ort beim Fahrer, sondern nur im Voraus und online zu kaufen ist. Huch! Also hieß es, noch schnell ein Ticket zu kaufen. Das war aber kein Problem und dank der Hilfe des Hostelpersonals hielt ich es bald als Ausdruck in der Hand. So konnte ich nun beruhigt auschecken und zum Busbahnhof schlendern, welcher unweit der Markthallen gelegen war. Am ersten Bussteig wartete bereits mein Doppeldeckerbus der Linie Ecolines, welcher mich hinüber nach Litauen bringen sollte. Der Bus hatte den beeindruckenden Laufweg Riga – Kaunas – Białystok – Warschau – Breslau – Prag, was einer Wegstrecke von mehr als 1.3000 km entspricht! (Fun fact: Wie zur Mahnung, endlich den vorliegenden Bericht fertigzustellen, fuhr am gestrigen Tag ein baugleicher Ecolines-Bus direkt vor meiner Haustür vorbei. Dieser war auf der nicht weniger eindrucksvollen Route Rotterdam–Riga unterwegs und muss wohl irgendwie vom rechten Weg, sprich der Bundesautobahn 28, abgekommen sein.)
Trotz der kurzen Vorlaufzeit hatte ich noch einen Premiumplatz ergattern können: Oberdeck, erste Reihe. Nachdem mein Gepäck von den beiden Fahrern verladen und mein Ticket von der Busbegleiterin kontrolliert worden war, bestieg ich das Gefährt und machte ich es mir gemütlich. An meinem Platz fand ich eine Speisekarte vor, auf dem sogar warme Mahlzeiten verzeichnet waren. Die Vorstellung, mit einer heißen Suppe durch den schaukelnden Bus zu jonglieren, erschiend mir allerdings recht abenteuerlich. Kurz nach der Abfahrt kam die Dame von der Ticketkontrolle vorbei und machte mich mit der Bordtechnik vertraut. Unter anderem teilte sie mir mit, dass die Sitze in der ersten Reihe die einzigen seien, für die Anschnallpflicht gelte – na gut, dafür würde ich bis zu meinem Zielort Kaunas ohne Sitznachbarn bleiben. Die Aussicht von hier oben war tatsächlich sehr gut, und so konnte ich auf der Fahrt aus der Stadt noch einen Blick auf so manche Sehenswürdigkeit erhaschen.
Bald darauf fanden wir uns auf einer vielbefahrenen Überlandstraße wieder. Der Fahrer machte ordentlich Tempo und überholte so manchen Lastwagen. Die Landschaft war eher unspektakulär und so widmete ich mich dank des tadellos funktionierenen WLANs meinen technischen Geräten. Nach etwas über einer Stunde Fahrzeit passierten wir fast unbemerkt die litauische Grenze. Mittlerweile lag unterwegs kaum noch Schnee. Nachdem der Winter sich in Tallinn noch einmal in die Verlängerung, in Sigulda sogar ins Elfmeterschießen gerettet hatte, war es nun endgültig passiert: Der junge Frühling trug den Sieg davon! Noch präsentierte sich dieser allerdings weitgehend grau in grau. Die Wolkendecke riss nur einmal bei dem einzigen längeren Zwischenstopp in Panevėžys kurz auf. Die letzten Kilometer legten wir auf einer autobahnähnlichen Straße zurück, was sich fast schon wieder heimatlich anfühlte.
Schließlich erreichten wir gegen halb fünf, und damit überpünktlich, die Stadtgrenze von Kaunas. Der Halt wurde wie alle Durchsagen in einer Reihe von Sprachen angekündigt, wobei die Hauptverkehrssprache im Bus Russisch zu sein schien – kein Wunder, handelt es sich dabei doch nach wie vor um die Lingua franca im östlichen Europa. Kaunas ist die zweitgrößte litauische Stadt und liegt an der Mündung des Flusses Neris in die Memel. Durch seine verkehrsgünstige Lage und reichhaltige Wissenschafts- und Kulturszene wird Kaunas auch häufig als heimliche Hauptstadt Litauens bezeichnet. Dies hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass in der eigentlichen Kapitale Vilnius ein großer Teil der Bevölkerung (etwa 40%) aus Nichtlitauern besteht, vorwiegend Polen und Russen. Spöttisch heißt es, in Chicago werde heute mehr Litauisch gesprochen als in Vilnius (zu den kulturellen Spannungen im Baltikum siehe auch dieser Artikel).
Wir hielten schließlich an dem nigelnagelneuen und riesigen Busbahnhof (Kauno autobusų stotis) – wahrlich eine Kathedrale des Omnibusverkehrs! Die elektronische Anzeigetafel verkündete nicht weniger als 82(!) Ankünfte allein in den kommenden zwei Stunden. Sollte noch ein Beweis nötig sein, welches das bevorzugte Verkehrsmittel im Baltikum ist – hiermit wäre er erbracht. Sehr schön war übrigens der Kontrast zwischen dem topmodernen Empfangsgebäude und den leicht angestaubten, giftgrünen Trolleybussen, die den städtischen Nahverkehr in Kaunas übernehmen.
Zum Glück hatte ich es nicht weit zu meiner Unterkünft, diese lag nämlich direkt gegenüber des Haupteinganges der Busstation. Für meine letzte stationäre Übernachtung habe ich mir noch einmal ein Hotel gegönnt, nämlich das Happy Inn. Hier gab es für etwas weniger als 30 EUR ein geräumiges Doppelzimmer mit eigenem Bad, Kühlschrank und kleiner Kochgelegenheit – da kann man nicht meckern! Nach der doch recht anstrengenen Busfahrt verbrachte ich zunächst einige Zeit im Hotel, um mich zu entspannen und einen letzten Schwung Wäsche in der hauseigenen Maschine zu waschen. Zwischendurch besuchte ich den Rimi-Supermarkt auf der anderen Straßenseite und deckte mich für den Abend sowie die letzten zwei Reisetage ein. Dabei stellte ich fest, dass das Preisniveau in Litauen offenbar noch ein kleines bisschen niedriger ist als in den anderen beiden baltischen Staaten.
Als alles erledigt war und ich ausreichend Eindrücke des litauischen Fernsehprogrammes gesammelt hatte, raffte ich mich endlich zu einem Stadtrundgang auf. Mittlerweile war es dunkel geworden. Kaunas würde sich also nahtlos in die Reihe jener Städte einreihen, die ich nur im beleuchteten Zustand kennengelernt habe. Mir macht das aber wenig aus, denn ich liebe es, nachts durch die einsamen Straßen zu ziehen. Zunächst war ich aber mit einer städtebaulichen Besonderheit konfrontiert. Kaunas besteht nämlich aus zwei Zentren, die ein gutes Stück voneinander entfernt sind: der historischen Altstadt, sowie der Neustadt aus dem 19. Jahrhundert. Da der Busbahnhof und damit auch mein Hotel im moderneren Teil lag, stand mir nun zunächst ein etwa dreieinhalb Kilometer langer Spaziergang zum historischen Zentrum bevor. Kernstück der Verbindung zwischen Alt- und Neustadt bildet die Laisvės alėja (Freiheitsallee), eine endlos lange, schnurgerade und von hunderten Bäumen bewachsene Flaniermeile, die von Cafés und Einzelhandelsgeschäften gesäumt ist.
Nach strammen Fußmarsch kam ich schließlich an der Ruine der Burg Kaunas am Zusammenfluss von Neris und Memel an. Dort fand gerade eine Art rituelle Feier und es brannte ein Lagerfeuer, an dem mehrere Reden gehalten wurden. Später stellte sich heraus, dass am folgenden Tag (11. März) die Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit im Jahre 1990 gefeiert wurde. Um Mitternacht gab es dann auch ein Feuerwerk, dies bekam ich allerdings nur noch im Halbschlaf in meinem Hotelzimmer mit…
Zurück zu meinem Stadtrundgang. Wie es sich für einen Freitagabend in einer Universitätsstadt gehört, waren die Straßen voll mit jungen Leuten, die von Club zu Club und von Bar zu Bar zogen. Zusammen mit den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag ergab das eine fast schon südländische Atmosphäre – nur ein paar Grad zu kalt waren es noch! Mich zog es zunächst zur katholischen Kirche der Himmelfahrt der Heiligen Jungfrau Maria (eine Nummer kleiner ging es wohl nicht) und der angrenzenden Vytautas-Magnus-Brücke über die Memel. Am südlichen Ufer, im Stadtteil Aleksotas, gab es eine Anhöhe, die tagsüber von einer Standseilbahn befahren wird und einen schönen Ausblick auf die Altstadt versprach. Ihr könnt euch denken, was passierte: Es dauerte nicht lange, und ich war oben! Tatsächlich war die Aussicht sehr lohnenswert und ich versuchte mich an einigen Panoramafotos, die vielleicht an anderer Stelle noch einmal Verwendung finden. Auch hier oben gab es einiges an Partyvolk, ein Selfie vor der nächtlichen Kulisse schien auf jenen Fall sehr beliebt zu sein.
Wieder unten und am anderen Ufer angekommen, begab ich mich nun auf den zentralen Rathausplatz, wo ich unter anderem das namensgebende Gebäude, die doppeltürmige Jesuitenkirche mit angeschlossenem Gymnasium, sowie die Backstein-Basilika St. Peter und Paul ablichtete. Mittlerweile war es spät geworden. Da der nächste Morgen einmal mehr früh begann, begab ich mich auf den Rückweg. Dabei ging ich wieder die Friedensallee entlang, welche schnurstracks auf die ehemals russisch-orthodoxe, heute römisch-katholische Garnisonkirche zuführt. Im Hotelzimmer angekommen war noch Zeit für ein litauisches Schlummerbier, ehe mir die müden Augen zufielen. Morgen beginnt dann endgültig die Heimreise. Und die hat es in sich! In einem 36-stündigen Marathon geht es quasi in einem Rutsch zurück nach Hause – unterbrochen einzig für einen kurzen Zwischenstopp in Danzig. Bis es so weit ist, sage ich aber zunächst für heute: Tschüss und bis bald aus Kaunas!